Harald Schirmer - es kommt nicht nur darauf an, was wir tun, sondern WIE wir es tun!

Lust auf Komplexität als Schlüssel zur Zukunft

Denk mal mit

Was macht uns Menschen aus? „individuelle Differenzierung“ sagt Ernst Cassirer. Sehe ich mir all die Methoden an, die uns zugegebener Maßen in den letzten Jahrzehnten erfolgreich gemacht haben, steht hier vor Allem Reduktion, Effizienzsteigerung und der Versuch einer immer detaillierteren Beschreibung „der einen Wahrheit“ im Vordergrund. 

Es dürfte nicht schwer sein, daraus abzuleiten, dass der nächste logische Schritt die Übergabe dieser perfekt beschriebenen Prozesse (=Algorithmen) an Maschinen und Programme sein wird. Auch weil diese fehlerfreier, günstiger sowie berechenbarer sind. Deutlich einfacher optimierbar per Upload oder „Maschinenlernen“ sind sie auch. Was bleibt dann für uns Menschen? Genau darüber mache ich mir in diesem Artikel Gedanken.

Meine These: Menschen sind perfekt geeignet für den Umgang mit Komplexität – wir haben es uns nur abtrainiert.

Heute ist unsere Antwort auf Optionsreichtum: Reduktion (was in meinem Verständnis eher im Kopf passiert = Logik, Kategorisieren, Abwägen, Filtern, Bewerten) – das haben wir perfektioniert. Dabei gebe ich jedoch den Satz von Wittgenstein zu bedenken:

Die Grenzen meiner Sprache sind die Grenzen meiner Welt

Wittgenstein

Wenn also naturwissenschaftliche Logik (Reduktion) unsere „Hauptsprache“ ist und wir nicht lernen den Reichtum von Vielfalt zu schätzen – sogar zu lieben – macht Komplexität Angst. So gerne hätten wir diese eine Weltformel, die Antwort (42?), das eine Tool, das alles kann und trotzdem selbsterklärend einfach ist.

Wie wäre es mit einer neuen LUST auf KOMPLEXITÄT?

Wie könnte man noch mit Komplexität umgehen? Wir könnten das große Ganze angstfrei und wertungsfrei ansehen, eine Methode, die wir in der aktuell sehr beliebten Praxis von „Achtsamkeit“ üben können: Sehen oder fühlen was ist, ohne es zu bewerten oder ändern zu wollen. Dazu später mehr.

Widerstehen wir dem Reflex der Reduktion und tauchen in den Reichtum, den uns Komplexität bietet, ein, können wir diese sogar steigern, indem wir zusätzlich:

  • Zusammenhänge und Beziehungen betrachten
  • Verschiedene, individuelle Perspektiven erfragen und respektieren
  • Die Zeit mit einbeziehen (Reifegrade, Erfahrung, Vergänglichkeit…)
  • Philosophische Ansätze, Moral und Ethik hinterfragen
  • Gegensätze und Widersprüche suchen und einbeziehen
  • Fühlen, eine emotionale Begegnung suchen
  • Intuition … was „kommt hoch“ bei ganzheitlicher Betrachtung
  • Interpretationen über andere „Sprachformen“ in der Kunst (Musik, Malerei, Skulpturen, Performance…)

Reduktion im Businesskontext

In meinem Arbeitskontext erlebe ich hauptsächlich den reduktiven Umgang. 

Personalarbeit lief lange Zeit unter dem Begriff „Human Resources“, es wurden also Menschen (um Sie managen zu können) auf Ressourcen reduziert, die in einen Zeitrahmen einzuplanen sind, Prozesse abarbeiten, über Stückzahlen und Qualitätszahlen kontrolliert werden. Im Change-Management definierte eine kleine Gruppe, wie Veränderung umgesetzt und „ausgerollt“ werden sollte. Im Wissensmanagement bestimmte eine Gruppe, wie Wissen gesammelt, gespeichert und genutzt werden muss, im Projektmanagement gab es entlang klar definierter Meilensteine diverse Rollen, Regeln, Prozesse, Freigabestufen um ein möglichst stabiles, vorhersagbares Ergebnis zu erzielen. OnePager, ElevattorPitch, KeyPerformanceIndicators, der ReturnOnInvestment oder Ampelstatus sind Beispiele für maximale Reduktion, wer sie meistert, dem stehen Karieren offen.

Werden diese Formen der Vereinfachung statt auf Kompliziertes auf Komplexe Themen angewandt, gibt es Fehlentscheidungen, Probleme und massiven (negativen) Einfluss auf die Unternehmenskultur.

Organismus
Organismus oder Roboter

All diese Methoden gingen scheinbar davon aus, dass Menschen eigentlich programmierbare Roboter ohne Bedürfnisse, Stärken und Schwächen – vor Allem aber alle gleich und ohne besondere Fähigkeiten – beliebig austauschbar sind. Ich halte das zum einen für respektlos, viel schlimmer aber aus Sicht eines Unternehmers eine unglaubliche Verschwendung von Potential.

Diese Methoden waren sehr gut geeignet für stabile Rahmenbedingungen – also wenn es um Material, Geld, Zeit, Information, Daten ging (tote Dinge). Es wurde jedoch immer deutlicher, dass diese Form von Management und Reduktion für lebendige Organismen nicht nur schlecht „funktioniert“, sondern richtig schädlich ist.

Ein Mensch der in zu viel Monotonie gezwungen wird, wird irgendwann verrückt oder schaltet ab.

Soziale Systeme lassen sich nicht zu stark kontrollieren, irgendwann „explodiert“ es – die Flüchtlingsfrage, New Work oder Demografie ist kein mathematisch lösbares Problem.

Auch Natur lässt sich nicht beliebig in seine manage- und optimierbaren Bestandteile zerlegen (Monokultur), das Ökosystem ist ebenfalls nicht „nur“ auf ein CO2 Problem reduzierbar, das nur gelöst werden muss.

Umgang mit Komplexität – Beziehungen statt Lösungen

Nicht nach Lösungen suchen, sondern Beziehungen erkennen/nutzen (Soziologe Prof. Harald Welzer).

Spannenderweise entstehen seit vielen Jahren neue Methoden, die in diese Richtung gehen. Als Beispiele dienen agile Methoden, die eine „Ende zu Ende“ Verantwortung erfordern, Eigenständigkeit und deutlich weniger statische Rahmungebung bedeuten, oder neue Führungsprinzipien wie „Leadership“ im Digitalzeitalter (bei dem es weniger um IT als um eine ganzheitliche (humanistische) Reife in Digitalität geht).

Hier geht es darum Menschen zu befähigen, eine fragende Haltung zu entwicklen – es geht um Beziehungen und weniger um Standardisierung.

Hierarchy vs Netzwerk
Hierarchy vs Netzwerk

In meiner Arbeit entwickle ich ebenfalls Methoden und Konzepten wie „Lebendiges Wissen“ oder „Leading Change“, welche die Vielfalt der Beteiligten respektieren und nutzen sowie die sich stetig wandelnden Rahmenbedingungen akzeptieren.

Auch in den Organisationsformen konnten wir eine Entwicklung verfolgen: Von klar strukturierten Hierarchien über funktionsübergreifende TaskForceTeams in den 90ern hin zu heutigen Communities und lokalen oder globalen Netzwerken – womit intrinsisch motivierte, (digital) vernetzte Individuen, die eine gemeinsame Vision verfolgen, gemeint sind.

Überforderung und die Sehnsucht nach der guten alten (einfachen) Zeit.

Viele erleben heute eine große Überforderung. Ob es um Wirtschaftskrisen, Technologie, Gesundheit, Ernährung, globale – politische Zusammenhänge oder auch nur um „welches Tool, welche Plattform die richtige/beste ist – es gibt von Allem zu viel. Selbst die Entscheidung welche Milch im Regal die „Beste“ ist, muss heute mit einem „es hängt davon ab“ beantwortet werden.

Einfach war gestern.

Beispiel:

Früher: „Ich brauche eine Hose“ > einkaufen gehen, Hose kaufen, fertig. (Kriterien meist nur Preis, Geschmack, Verfügbarkeit)

Heute: „Ich brauche eine Hose“ > brauche ich wirklich eine? wo wurde die – von wem hergestellt, online oder im Laden – und in welchem Laden (Einzelhändler oder Kette), ist das Material „gesund“, wie wurde sie mit welchen Chemikalien gefärbt, passt die Qualität, Mode, ist die Lieferkette ok, Umtausch möglich, Garantie? Kann man sie gut entsorgen…

Das ist nicht nur bei Hosen so, egal ob es um Messenger, Plattformen, Parteien, Nahrungsmittel, die eigene Ausbildung oder den nächsten Urlaub geht, kaum ein Bereich, der für bewusst handelnde Menschen nicht durch enorme Vielfalt in Überforderung führt.

Ich sehe diesen Stress als das Ergebnis von konditionierter Reduktionsnotwendigkeit, da unsere antrainierte Reaktion auf Vielfalt – Reduktion ist. Wenn Vereinfachung immer schwerer gelingt, führt das zu Kontrollverlust.

Menschen sind eigentlich seit Urzeiten gewohnt mit Komplexität und Vielfalt umzugehen, da unsere Umgebung (Natur, Wetter, Lebewesen um uns) nie wirklich stabil, berechenbar und selten „eineindeutig“ war.

Marionette
Bist Du normal?

Vielleicht war es eine stärker werdende Naturwissenschaft, die „richtig/falsch“ oder eine eindeutige Lösung als das erklärte Wunschziel definierte. Dieser Trend ist scheinbar in alle Bereiche eingedrungen. Angefangen schon vor der Geburt (alles normal?), als Baby (entspricht es dem üblichen Wachstum) zum Kindergarten (Konditionierung „So sieht ein Haus aus“), über die Schulen (Noten als unterkomplexes Bewertungsschema als Filter und gegen Normabweichungen), Einführung von Eignungstests, Assessment Centern bis hin zu standardisierten Intelligenztests. Werbung, Karriere, Gesundheit:

Es scheint, als wäre unser Ziel
einen idealisierten Standardmenschen
ohne Abweichungen anzustreben.

Heute finden wir jedoch in den wenigsten Bereichen der Naturwissenschaft ausschließliche oder endgültige Aussagen – da immer mehr Abhängigkeiten entdeckt werden. Wir lernen, das unsere effizienzoptimierten „Monokulturen“ große Probleme erzeugen und der Optimierungswettlauf gegen immer heftigere Gegenreaktionen (Plagen, Klima, Viren, Burnout…) nicht gewinnen kann.

Vielleicht sollten wir weniger nach Lösungen und mehr nach Beziehungen suchen und dabei die Vielfalt wieder mehr schätzen. Auf wenigen Quadratmetern Permakultur ist ganzjährig deutlich mehr Ertrag möglich, als auf jedem effizienz-bewirtschafteten Feld – und das ohne Dünger und Schädlingsbekämpfungsmittel dafür aber langfristig nachhaltiger. Diverses Netzwerke von unausgebildeten Freiwilligen gewinnen immer öfter gegen hochqualifizierte Expertenteams. (siehe diverse Crowdsourcing Aktionen).

Wir brauchen Experten, keine Frage
– nur wie wertvoll sind uns Generalisten?

(Wie) Können wir mit Vielfalt umgehen?

Hochzeit im Landgasthof Haas

Beispiel: Wir sind eingeladen und betreten den Ort der Veranstaltung. Binnen weniger Millisekunden haben wir ein Gefühl dafür, ob es ein gelungener Abend werden könnte. Ist dass das Ergebnis einer logischen Analyse/Kopfbewertung (wer ist da, wie laut ist welche Musik, wie hell ist es, welche Stühle – sind die bequem, wonach riecht es, wie groß ist der Raum, worüber sprechen die Menschen und vermutlich hunderte weiterer, analysierbare Eindrücke) oder ist es das, was wir Bauchgefühl nennen?

Diese extrem schnelle Beurteilung über Intuition oder „Bauchgefühl“ steht uns für alle möglichen Situationen zur Verfügung, ob wir jemand kennen lernen, etwas Neues erfahren, in unseren Gewohnheiten gestört werden etc. Es ist wohl wissenschaftlich erwiesen, dass unsere Emotionen im schlechtesten Fall „nur“ doppelt so schnell sind, wie unser Denken. Zusätzlich ist die Wirkung von Emotionen auf uns auch noch dramatisch intensiver – weshalb uns auch nachhaltige Verhaltensveränderung so schwerfällt. Oft wird auch behauptet, das wir mit dem Bauch entscheiden, und es mit dem Kopf rechtfertigen 😉

Logik braucht Zeit, Intuition/Emotion ist extrem schnell.

Zu Bedenken ist natürlich, dass diese emotionalen, intuitiven Reaktionen von unseren Erfahrungen geprägt sind (implicit Bias) – also stark davon abhängen, wie wir aufgewachsen sind, oder welche Erlebnisse wir hatten. Anders ausgedrückt, wie sehr wir in unserer Kindheit oder Vergangenheit mit VIELFALT konfrontiert waren.

Früh übt sich,
wer ein Komplexitätsmeister werden will:

Vielfalt weniger gewohnt und vermutlich eher vom tatsächlichen Reichtum der Welt überfordert, wer:

  • in seiner Kindheit nur „weiße Europäer“ um sich hatte
  • eine klare Rollentrennung (Mann/Frau) erlebte
  • selten seinem Heimatort verlassen konnte
  • nach dem Motto „das haben wir schon immer so gemacht“ erzogen wurde
  • in der Schule nur bei dem „einen richtigen Weg“ gute Noten bekam
  • Aussagen, Meinungen oder Fragen konstant mit richtig/falsch oder ja/nein beantwortet wurden
  • wenig Zugang zu perspektivenreicher Literatur, unterschiedlichsten Musikstilen, Kunst und Kulturen, bestand
  • kaum unterschiedliche Bräuche kennen gelernt hat

Wird man dann mit Andersartigkeit oder Vielfalt konfrontiert, macht das verständlicherweise Angst, die zu Ablehnung oder gar Hass führt. 

Kontrolle gibt Sicherheit … wer Kontrolle als erfolgreiches „Lösungsschema“ gelernt hat, fühlt sich in dynamischer Vielfalt unsicher und meidet/verhindert sie.

Man kann sich auch in Vielfalt baden

Es ist doch unglaublich beruhigend zu wissen, dass es eigentlich kein Richtig/Falsch gibt, sondern nur eine im Moment bestmögliche Sichtweise oder ein aktuell erreichbares (Zwischen)Ziel.
Dateinamen wie „name_final_final_version5.pptx“ zeugen vom vergeblichen Versuch „Endgültiges“ zu erzeugen, statt die Datei mit einem Zeitstempel in der Gegenwart zu verankern.

Konstantes Experimentieren, Scheitern, Lernen, Reflektieren, Austauschen ist auch ein Weg, der eine Weltoffenheit zur Folge haben kann. Wir sammeln damit eine Vielzahl von Perspektiven, Beziehungen und Lösungen. Auf jeden Fall ist diese Haltung eine lernoffene und somit besser geeignet für Zeiten des Wandels.

Zukunft planen
Lernzyklen

Lernen ohne Abschluss

Wenn wir einen neuen Weg gehen, werden wir irgendwann den scheinbar kürzesten, effektivsten, schönsten… finden. Diesen Lösungspfad schreiben wir dann in Schulbücher und kommende Generationen lernen den auswendig. Was aber, wenn sich die Rahmenbedingungen, die Beteiligten, meine Einstellung, Wortbedeutungen, die Beziehung der Dinge untereinander ändern, oder sich neue Sichtweisen ergeben (was in einer lebendigen Welt stetig passiert)? Dann sollte man vielleicht nicht mehr von „das ist so“ sprechen, sondern „unter meinen Rahmenbedingungen scheint diese Schlussfolgerung passend“.

Könnten wir lernen mit dieser Unsicherheit umzugehen, wären wir nicht mehr gezwungen unsere scheinbaren Lösungen/Antworten so hart zu verteidigen, da es auch andere Schlussfolgerungen in anderen Rahmenbedingungen erlauben würde.

Gemeinschaftliche Weiterentwicklung
statt kämpferischer Sieg

Der Bestseller Autor Simon Sinek referenziert höchst erfolgreich auf James Carses Buch „Finite and Infinite Games“, um den Aspekt „Gewinnen“ versus „Besser werden“ zu fokussieren.

Auch das sehe ich als ein sehr typisches Beispiel der Reduktion: In der Vergangenheit kümmerten wir uns nicht um das ganze Leben in all seinen Facetten, um unsere Gesamtverantwortung für eine Organisation, die Umwelt, Fairness oder Gerechtigkeit in der Welt – wir reduzierten auf ein „Flüchtlingsproblem“, den „Impfstoff“, die „Produktveröffentlichung“, den Meilenstein oder den Sieg in der Verhandlung.

Wie viel weniger Stress hätten wir (und vermutlich weniger Kriege, psychischen Stress, Ärger und Beziehungsprobleme), könnten wir mehr das große Ganze sehen – also das „endlose“ Spiel. Auch der etwas distanziertere Blick hilft zum einen die größeren Zusammenhänge und unsere tatsächlichen Möglichkeiten zu erkennen (der Blick auf Generationen oder aus dem All auf die Erde, könnte klar machen, wie Sinn-frei mancher Nachbarschaftskrieg ist).

Wir versuchen unser Bestes und achten auf Beziehungen, aber wenn es diesmal nicht klappt – lernen wir daraus und werden besser.

Respekt und gesunde Demut

Komplexität zu feiern, ist eine wertvolle Art, Respekt vor der ganzheitlichen Vernetzung der Dinge, sowie eine positive Demut zu entwickeln. Auch uns selbst können wir dann als nur einen Einflussfaktor von vielen begreifen.
Damit ist sicher keine gleichgültige oder unterwürfige Haltung gemeint, es geht darum ein Bewusstsein zu entwickeln, wie wir diesen Reichtum an Möglichkeiten besser verstehen und nutzen lernen.

Um als Gestalter unserer Zukunft
nicht zu verbrennen oder zu resignieren,
sind Respekt und Demut gesunde Begleiter.

Komplizierte Probleme löst man durch Reduktion und Vereinfachung.

Komplexe Themen werden durch Respekt von Individualität (Perspektiven, Erfahrungen, Wissenstand, Reife, Herkunft…) im ersten Schritt noch komplexer – dafür aber ganzheitlicher und daraus resultierende Möglichkeiten passender für mehr Beteiligte.

In der Praxis:
Lust auf Komplexität statt Reduktion

Ganz praktisch versuche ich genau diese Lust auf Komplexität in meinem Umfeld zu fördern. Wir fragen die Mitarbeiter: Wie wollt Ihr lernen, und setzen alle Wünsche gemeinsam um… die Erfahrung – extrem hohe Zufriedenheit, wenn ein neuer Umgang mit Optionen gelernt wird (was brauche ich, was will ich, welche Angebote gibt es).

Statt zentral gemanagter Projektorganisation ermutige ich Kollegen, die sich freiwillig, Neugier– und Interessengetrieben melden, in Selbststeuerung und Eigenverantwortung (Unternehmertum) zu führen: „Such Dir selbst aus, wo Du den größten Mehrwert für Dich und die Organisation bringen kannst“. Das, was keiner übernehmen möchte, machen wir gemeinsam. Diese Abgabe von Verantwortung und totaler Kontrollverlust will geübt werden.

Wir suchen nach bestehenden, vielfältigen Beispielen und machen die für die globale Organisation als „Optionen“ verfügbar. Das reduziert auch den typischen „Not invented here“ Widerstand, macht im Gegenteil viele Stolz, einen wertvollen Beitrag geleistet zu haben.

Wir erhöhen die Transparenz der Ziele, Prozesse, Entscheidungsfindung und Abhängigkeiten, um damit Beteiligung und Vertrauen zu fördern. Die Erfahrung zeigt, dass durch die vielen Perspektiven die Qualität steigt, da Probleme, Fehler und Falscheinschätzungen viel schneller gefunden werden. Die Risiken sinken durch die gemeinschaftliche Früherkennung.

Betrachtet man nicht nur das Projekt selbst, sondern auch die anschließende „Adoption-Phase“, also die Zeit, bis die globale Nutzung nach einem Projekt „Roll-Out“ erreicht ist, steigt die Akzeptanz deutlich spürbar. Die Gesamtzeit bis die typische Change-Kurve (early Adapter, early majority, late majority) durchlaufen ist, verringert sich dramatisch. Die Zahl der „Verweigerer“ ist ebenfalls geringer, da durch Transparenz und Beteiligung, durch lokale „Unternehmer“ (Beteiligte, GUIDEs, kulturverantwortliche Teams…) eine persönliche, soziale Beziehung entsteht, sowie die Möglichkeiten der Anpassung vielfältiger sind. Während oft zitierte Berater über 60% solcher klassischen Organisationsveränderungen ein „Scheitern“ attestieren, freuen wir uns über 70+% (sehr) zufriedene Mitarbeiter. Zählen wir die 20% neutralen Rückmeldungen dazu, haben wir über 90% nicht-negative Beurteilung in einem hochkomplexen, globalen Change-Projekt.

Achtsamkeit und Wirksamkeit

2020 habe ich mich intensiver mit diesen Beiden Themen beschäftigt. Wie können wir durch die Nutzung von Diversität, von sozialen Netzwerken und so wenig Regeln wie möglich unsere Wirksamkeit erhöhen? Einige unserer Netzwerke sind seit 2012 aktiv und agieren frei von klassischem Management, von Kontrolle oder disziplinarischem Druck. In allen Projekten oder Initiativen, in denen sie beteiligt waren, wurde Sie als „der entscheidende Hebel“ angesehen. Diese Wirkung kann als direkt, persönlich, nachhaltig, innovativ/kreativ, relevant sowie als agil/responsiv beschrieben werden.

Beim Thema Achtsamkeit war der Fokus bisher auf Haltung und Werten (Vertrauen, Freiheit, Verbundenheit), immer mehr kommt jedoch der Aspekt von Meditation als wirksame Unterstützung, bezogen auf VUCA, in den Vordergrund. Erst in den letzten Wochen übertrage ich persönliche Erfahrungen auch auf größere Teams und Communities. „Nicht zu müssen“ habe ich in diversen Artikeln schon beschrieben – man kann es auf viele Themen ausweiten (Managen, Kontrollieren, Lernen, Entscheiden…) mit dem Ziel herauszufinden was „wirklich, wirklich“ zählt – und wir wirklich „wollen“. Das im Sinne des Unternehmens und der persönlichen Weiterentwicklung zu fördern, scheint eine sehr lohnenswerte Aufgabe, die heute gerne als „New Work“ bezeichnet wird.

VUCA

Wie gehen wir vor?

Mal angenommen meine Gedanken sind nachvollziehbar, dann stellt sich die Frage:

Wie entwickeln wir uns
vom (Regel)Follower
zum (Komplexitäts)Leader?

Wir schaffen es bei einem wachsenden Teil der Kollegen das „growth Mindest“ zu stärken und über Neugier, Selbstwirksamkeit, Beteiligung und persönliche Begleitung den Weg in ein freiheitlicheres, verantwortungsvolleres Handeln. Es gibt den Zweifel, dass wir damit nur einen bestimmten Menschentyp erreichen – das glaube ich nicht.

Es gibt so viele, die mit dem aktuellem Zustand unzufrieden sind, sich aber nicht trauen, resigniert haben oder sich zu klein oder alleine fühlen. Ich glaube die Zeit ist reif und mit je mehr Menschen wir beweisen, das New Work mehr als nur ein cooler Trend ist. Nur wo sind die Hebel, das als ganzheitliche, nachhaltige Bildungs- oder Befähigungsinitiative flächendeckend zu starten?

Lineares Schreiben von vernetzten Gedanken.

Vermutlich ist dieser Artikel keine besondere Freude zu lesen – so ging es mir auch beim Schreiben. Einen fließenden Text zu schreiben, obwohl die Gedanken von einem Thema zum Nächsten springen, fiel schwer. Diverse Diskussionen mit Masteranten und ProfessorInnen zum Kompromiss der linearen Beschreibung komplexer Zusammenhänge waren bisher nicht erfolgreich. Wikipedia macht zumindest den Versuch, im Text durch Verlinkung verknüpfte Zusammenhänge darzustellen. Vermutlich bräuchte es eher ein 3-dimensionales, fluides, multimediales „Bedeutungsglossar“, um Komplexität und Vielfalt auch im „Lesen“ zu erleben.

MindMap

Die Gedanken dieses Artikels bewegen mich seit vielen Jahren. Die letzten Hörbücher vom Erfinder der Individualpsychologie Alfred Adler, interpretiert von Ichiro Kishimi („Du musst nicht von allen geliebt werden“ und „Du bist genug“) sowie die Werke von Dale Carnegie („Sorge dich nicht – lebe“ und „Wie man Freunde gewinnt“) waren dabei eine große Inspiration. Beide beschreiben eine ganzheitlichere Weltsicht, die vor Allem auf Beziehungen basiert.

Es war ein Versuch das alles einmal niederzuschreiben… mal sehen was daraus wird, ob bei jemandem Resonanz entsteht oder kaum jemand bis zum Ende kommt 😉

Beitragsinfo:

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2 Antworten

  1. Avatar von Swea Rüth
    Swea Rüth

    Hallo Harald,
    seit Nov. arbeite ich in einem IT-Projekt zur Entwicklung eines Serious Games Ansatzes in der Bildung. Wir sind ein Team von 5 Leuten -und haben – ja tatsächlich richtig Spass an dem was wir machen. Dein Ansatz von “ growth MindSet“ ist dabei ein wesentlicher gemeinsamer Nenner. Vielleicht ist es Glück – oder auch Fügung, dass ich nach 20Jahren “ BüroArbeit“ das miterleben darf. Beziehung statt Lösung – habe ich mir aus deinen Zeilen mitgenommen. Danke dafür. Im Prototyp des Serious Game – ist das ebenfalls ein wichtiger Trigger. Es geht nicht um Starre Lösungswege. Spiele sind dafür ideal, um individuell Szenarien situativ im Spielverlauf darzustellen und die Komplexität anhand von veränderbaren Rahmenbedingungen aufzuzeigen. Spielerisches Lernen ist das, was wir in unserem Unternehmen einführen und ausbauen wollen. Mit den Mitarbeitern gemeinsam die derzeitige Transformation erlebbar machen und Angst/Zweifel beseitigen. Ein virtueller Guide für das wirkliche Leben – um Szenarien greifbar zu machen – vorbereitet zu sein – Try and error im Spiel kein Problem. In diesem Sinne – Game on – und auf ein spannendes neues Jahr. Grüße aus Hannover. Swea Rüth

  2. Avatar von Jessica Westermayr
    Jessica Westermayr

    Hallo Harald,

    danke für diesen und die anderen Artikel auf dieser Homepage.
    Ich studiere seit kurzem Wirtschaftspsychologie (MBA) and der FH Burgenland im Online Studium.
    https://fernstudium.study/mba-angewandte-psychologie-fuer-die-wirtschaft/

    Momentan sitze ich an meiner zweiten Seminararbeit zum Thema „Individualisierung“ und die Auswirkungen auf Personal-/Führungsverhalten.
    Neuzeitliche wissenschaftliche Artikel zu diesem Thema sind schwer zu finden. So bin ich für alles dankbar. Und diese Seite hier ist definitiv gut lesbar. Aber mit dem Schreiben geht es mir ähnlich: es fällt schwer sich zu begrenzen und nicht von a nach b nach c zu schweifen, wobei es ja alles zusammenhängt….

    Viele Grüße aus München
    Jessica

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