Gedanken zu Netzwerken
Seit knapp zehn Jahren arbeite ich jetzt mit Netzwerken in unterschiedlichster Konfiguration und Themen – meist habe ich die selbst aufgebaut. Es geht um „Menschen-Netzwerke“.
Oft lese ich, das Netzwerke die Hierarchie ablösen werden, das halte ich für fraglich. In meinen Augen ist eine Netzwerk-Organisation eine sinnvolle und notwendige ERGÄNZUNG zu einer Rollenverteilung wie wir sie heute haben (die aber gerne angepasst werden sollte). Dabei sind Experten, Funktionen und Fachgruppen für die „Tiefe“, Prozessqualität und Prozesseffizienz sowie Sicherstellung eines erwarteten Ziels in der benötigten Zeit verantwortlich und ein Netzwerk für die „Breite“, den Perspektivenreichtum, die Verknüpfung und die Relevanz. Im Ideal entsteht ein kontinuierlicher Wechsel zwischen Vertiefung und Erweiterung um die Vorteile beider Organisationsformen zu verbinden.
Im zeitlichen Ablauf kann die Kombination aus Fachfunktion und Netzwerk wie „atmen“ funktionieren – als beim einatmen verdichtet man die Netzwerkerkenntnisse durch effizientes ausarbeiten, spezialisieren und produzieren, beim Ausatmen holt man wieder Netzwerkluft (Inspiration) zur Evaluation, für Feedback, Reflexion, Lernzyklen. Insgesamt sollte dabei aber durch Transparenz jeder Schritt sichtbar sein, sonst entstehen hohe Kommunikationsverluste. Es gibt aber noch viele andere Einsatzzwecke, die ich beschreiben möchte.
In der Reihe der „Arten der Zusammenarbeit“ haben Netzwerke ihre Stellung neben Teams, Co-Creation, Vereinen, Organisationen und anderen Modellen, diese sollte jedoch noch klarer definiert werden.
Grund für diesen Artikel
Gestern bekam ich wieder einen „Test“ vorgelegt, der zeigen sollte, das herkömmliches Management „besser“ ist als Netzwerke. Das veranlasst mich dazu diesen Versuch einer „Grundlagensammlung Netzwerke“ zusammenzufassen
– besonders, weil so oft von völlig falschen Annahmen dieser neuen Organisationsform ausgegangen wird. Auch wenn man Wikipedia nach der Definition „Netzwerk“ befragt, bekommt man in meinen Augen ein totales Durcheinander zwischen System, Technik und Menschen. Meine Gedankensammlung ist natürlich keinesfalls allgemeingültig, vollständig oder ausdifferenziert. Die Basis ist meine persönliche Interpretation aus diversen Erfahrungen im Konzern und außerhalb mit aktuell bis zu 14.000 Beteiligten:
- Lokale, persönliche Netzwerke
- Globale Netzwerke mit konkreter Zieldefinition
- Globale Netzwerke als Projektbegleitung (Leading Change, Qualität, Adoption)
- Netzwerke zur Initiativenunterstützung – „create a movement“ eine Bewegung erzeugen
- Lernnetzwerke um Bildung und Reifegrad zu erhöhen
- Innovationsnetzwerke zur Früherkennung von Trends, Qualitätssteigerung und Maximierung der Disruption
- Energie-Netzwerke (Filterblasen), um Resilienz zu erhöhen bei besonders disruptiven Ansätzen (Du bist nicht allein)
Man sollte also unterscheiden zwischen Netzwerken, die einem bestimmten Zweck dienen und „gesteuert“ werden (zeitlich und/oder thematisch definiert) und z.B. persönlichen Netzwerken, die der eigenen Weiterbildung, Karriere oder Wirkungsentfaltung dienen. Bei letzteren investiert man (z.B. durch Working Out Loud) in Reputationsaufbau um irgendwann und wenn notwendig die Vorteile einer großen Followerschaft nutzen zu können. Dieser Prozess hört nie auf.
In aller Kürze:
- Ich fokussiere hier auf FREIWILLIGER Beteiligung an zielorientierten Netzwerken z.B. in Unternehmen oder zu Aktionen
- Ein ideales Netzwerk ist die höchste Stufe der Kombination aus Selbststeuerung, Eigenverantwortung, Disziplin, Solidarität und diveristäts-basiertem Erfolg
= Netzwerken muss man lernen und stetig weiter entwickeln… wir sind noch ganz am Anfang - Netzwerke können bessere, nachhaltige und ganzheitliche Lösungen für komplexe Aufgaben finden, brauchen aber Disziplin und Ressourcen
- Netzwerke verkörpern den Reichtum von Diversität
- Die Beteiligung in/an Netzwerken reduziert Veränderungswiderstand dramatisch
- Transparenz in Netzwerken kann auf effiziente Weise die Qualität der Ergebnisse verbessern
- Persönlich sind für mich Netzwerke eine wichtig Basis von Leading Change
Buchempfehlung:
Was ist ein Netzwerk?
Ich spreche von Netzwerken, wenn eine größere Zahl von Menschen an einem Ziel (oder Vision) interessiert sind. Je größer das Netzwerk – also die Diversität, nicht nur mehr vom Gleichen – um so komplexere Aufgaben können gelöst werden. Hier ein Link mit weiteren Gedanken zu den Vorteilen eines Netzwerks
- 100 ScrumMaster (oder jedes andere Fachgebiet) ist gut für kontinuierliche Verbesserungen und Prozesseffizienz zu erhöhen, Fachwissen zu konsolidieren, die Reinheit der Methode sicherzustellen.
- 100 Menschen mit diversen Fähigkeiten können multi-perspektivisch ganzheitliche NEUE Lösungen erarbeiten, die für maximal viele Menschen sinnvoll/umsetzbar ist.
- 100 Menschen aus verschiedenen Kulturräumen können nachhaltige, globale Fragen beantworten, die in den jeweiligen Regionen auch Akzeptanz finden.
- x Millionen Menschen können ein sensorisches Netzwerk (Schwarmintelligenz) sein, dessen „Input“ Vorhersagen erlaubt, als Frühwarnsystem funktioniert oder als Multiplikatoren eine Bewegung erzeugt, die jenseits aller Top-Down Initiativen erfolgreich ist (= viral)
Voraussetzungen für ein Netzwerk?
Beteiligung, Transparenz, Commitment, Wertschätzung, gemeinsam Vision (Why) … Netzwerk-Moderator(en)
- Es braucht einen Grund sich zu vernetzen – die Beteiligung an einem Netzwerk ist eine Investition, die nur getätigt wird, wenn man sich kurz- oder langfristig davon einen Mehrwert erhofft (der kann auch sein, die eigene Mission besser zu erreichen, gesehen zu werden (Reputation), es gibt viele Gründe…)
- Die Beteiligung, Wirkung und Effizienz eines Netzwerks steigt mit der Transparenz der Ziele, Entscheidungen, Grundlagen, Aufgaben, Anforderungen…
- Das Commitment steigt mit der persönlichen Relevanz und der Identifikation mit dem erhofften Ergebnis
- Wertschätzung (vor Allem nach Außen sichtbare) ist einer der wichtigsten Treiber von Beteiligung und langfristigem Commitment
- Netzwerke brauchen auch Rollen, in denen Verantwortung übernommen, Entscheidungen vorbereitet/bestätigt werden, Abläufe definiert und umgesetzt werden
Buchempfehlung:
Was ein Netzwerk in der Regel NICHT leistet:
- Reine Delegation von Arbeit ohne persönlichen Mehrwert am Ergebnis (Crowdsourcing, Crowdfunding, Crowdworking bedeutet nicht billige Arbeitskräfte)
- Bestehende, effiziente, serielle Abläufe (lean) noch schneller machen (Netzwerke haben Ihren Mehrwert im Parallel arbeiten)
- Projektarbeit zu verbessern während sich alle an bekannte Projektmethodenvorgaben halten müssen
Idealer Einsatz von Netzwerken oder offenen virtuellen Teams:
- Als moderner Lernraum
- Für Innovation im Digitalzeitalter
- Für neue Business Modelle oder andere disruptive Veränderungen
- Zur Lösung von komplexen Aufgaben, die noch keine klare Zieldefinition haben
- Zur Lösung von globalen Herausforderungen mit kultureller Diversität
- Für organisationale Veränderungsinitiativen
- Als Master der Informationsflut
Qualität im Entwicklungsprozess:
- Im WasserfallModell von Projektmanagement gibt es serial definierte Prozesse und Verantwortlichkeiten. Aufgaben und Information wird rollenbasiert kaskadiert, Rollenbeschreibungen grenzen Verantwortungsbereiche ab. Das sorgt für Klarheit, Stabilität und gleichbleibende Ergebnisqualität, ist aber auch träge und langsam.
- Netzwerke arbeiten Aufgaben parallel ab und Individuen übernehmen ganzheitlicher Verantwortung (Wem etwas auffällt, der bringt es sofort ein) Die Transparenz im Entwicklungsprozess sorgt für stetige Qualitätskontrolle aus diversen Perspektiven (Kunde, Qualität, Kosten, Relevanz…) Das ermöglicht itteratives vorgehen. Die „Minimum Viable Products“ also das erreichen von kleinen Zwischenergebnissen reduziert das Risiko von größeren Ausfällen, Fehlinvestitionen oder dem Entwickeln am Kunden vorbei.
Netzwerk ist nicht Chaos und funktioniert (noch nicht) selbstgesteuert:
- Leider habe ich erst wenige „selbstlaufende“ Netzwerke erlebt. Netzwerke können sehr lange alleine bestehen und wirksam sein (siehe unser GUIDE Netzwerk bei Continental)
- Aktuell kenne ich noch kein Netzwerk, dass sich ohne „Moderation“ selbst erhalten kann (Netzwerke müssen stetig wachsen, weil sie „automatisch“ ständig schrumpfen*)
Durch die Freiwilligkeit eines Netzwerkes muss es jedem erlaubt sein, zu gehen, sich neu zu orientieren, Pause zu machen… das sorgt für kontinuierlichen Schwund - Es braucht aktuell also noch Moderatoren, die „belebend“ eingreifen, zentrale Aufgaben zumindest definieren und notwendige Änderungen tragen. (Meine Hoffnung ist, dass über Klärung der Rollen in Netzwerken, über Bildung und Erhöhung der Reife mit Netzwerken diese Rollen immer mehr von Netzwerk selbst getragen werden können)
- Ich sehe es aktuell als eine Aufgabe von modernen Führungskräften aber auch Projektleitern, Vorständen oder Entscheidern, sich sinnvolle Netzwerke aufzubauen und diese zu fördern, zu etablieren und weiter zu entwickeln.
Technische Grundlagen für Netzwerke:
Große oder gar globale Netzwerke brauchen eine technische Grundlage, auf der Sie „leben“ können: in einer Organisation ist das ein „Enterprise Social Network“ (ESN) wie IBM Connections, Jive, Yammer, Confluence… oder außerhalb von Organisationen Plattformen wie LinkedIn, Twitter, Google, Facebook…
Ohne eine solche „etablierte“ Plattform ist weder der Aufbau noch die Nutzung eines Netzwerks möglich. (Herkömmliche Kommunikationskanäle sind in der Regel „geschlossen“ und erfüllen damit nicht die drei wichtigsten Voraussetzungen: Orts- und Zeitunabhängig und Skalierbar.
Dabei sind die wichtigsten Grundfunktionen einer Plattform für Netzwerke:
- Jeder Nutzer hat ein Profil mit Foto und Angaben zur Person (notwenig zum Reputationsaufbau)
- Nutzer können sich vernetzten (oft leider als „Freunde werden“ falsch übersetzt) oder folgen
- Es gibt Inhalte, die ausgetauscht werden: Text, Video, Bilder, Services…
- Es gibt mindestens die beiden Feedback-Möglichkeiten „Like“ und „Kommentar“
- Tagging als strukturgebende Filter
hier ein Beitrag, der sich damit genauer befasst: Link
Worin sind Netzwerke heute schon besonders wertvoll?
Gehen wir in dieser Aufzählung davon aus, dass es schon bestehende Netzwerke und Werkzeuge gibt.
- Schnelles und diverses (multi-perspektivisch) Feedback zu Ideen, Innovationen, Fragen
das Besondere an offenen Netzwerken hier ist die Zielgruppen-unspezischen Antworten … unerwartete Antworten - Begleitung von organisationalen Veränderungen mit GUIDEs – (MultiplikatorenNetzwerk, Change Agents, Train the Trainer, Lokalisierung-Individualisierung)
- Review zur Qualitäts- und Erfolgssicherung (gleichzeitig wird dadurch im Projekt die Klärung der Zieldefinition gefördert, weil sonst keine sinnvollen Antworten aus dem Netzwerk kommen können)
- Beteiligungskampagnen um bei Change Projekten Kommitment zu erzeugen
- Virale Kommunikation oder Marketing (funktioniert aktuell nur bei wirklich guten Themen, die große Relevanz für Viele haben)
- CrowdSourcing von kleinstAufgaben – z.B. Übersetzung von kurzen Texten in viele Sprachen, Sammlung von Wissen oder Informationen aus verschiedensten Quellen
- Stimmungsbilder erfahren oder erzeugen
- Etwas im Schwarm „finden“ (Stecknadel im Heuhaufen, ohne die Stecknadel zu kennen) – weniger eine wissenschaftliche Recherche (bei der das Vorgehen und erwartetes Ergebnis klar ist)
Reifegrade und Steuerung von Netzwerken:
Im einfachsten Fall eines Netzwerks finden sich Menschen, erzeugen einen Mehrwert. Möchte man Netzwerk im Unternehmen oder außerhalb gezielt einsetzen, ist Moderation notwendig. Um eine Idee zu bekommen, wie aufwändig und umfangreich diese Aufgabe ist, empfehle ich die Berufsbilder des „Community Managers“, des „Corporate Community Mangers“ und des „Social Media Managers“ zu vergleichen: Link zu den Berufsbildern beim BVCM
Ein effizientes und dauerhaft erfolgreiches Netzwerk bedarf mindestens einer Person oder einer Gruppe, die verschiedene Aufgaben im Netzwerk übernimmt, steuert und sicherstellt:
- Vor-definition einer Vision
- Recruiting und Onboarding
- Aufgaben, Rollen, Ziele, Erfolgskriterien identifizieren
- Regeln der Zusammenarbeit klären / Disziplin sicherstellen
- Engagement des Netzwerks
- Erfolge feiern und mit den Akteuren verbinden
- Netzwerk nach außen vertreten, promoten, schützen
Das klingt erst mal alles nach sehr viel Steuerung und bekannter Organisation von Projekten. Der große Unterschied liegt hier an der Beteiligung, Transparenz und solidarischen Gemeinschaft auf Augenhöhe. Dazu ist Leadership verhalten notwendig – wie schon in vielen Artikeln beschrieben
Das komplett sich selbst steuernde Netzwerk
Ob wir kurzfristig diesen Reifegrad erreichen, glaube ich nicht. Unser Bildungssystem bringt aktuell „Regelbefolger“ hervor, die „funktionieren“ sollen. Für ein sich selbst steuerndes Netzwerk bräuchte man ein maximum an individueller Verantwortungsübernahme, perfekte Kollaborationsregeln, hohen persönlichen Mehrwert/Kommitment für jeden, hohe Priorität in großer Regelmäßigkeit. Die Frage wäre auch, wie groß muss ein Netzwerk sein, um so zu funktionieren? Wie werden die unterschiedlichen Charaktere wirksam ohne sich zu übergehen oder zu übertönen. Demokratie scheint mir dafür nur bedingt hilfreich – eventuell eine Kombination mit Losverfahren, Nominierung und Abstimmung. Wichtig wäre auch das soziale, ethische und solidarische Bildungsniveau sicherzustellen… das ist Aufwand, der nicht zu unterschätzen ist.
Ich schließe es nicht aus und arbeite darauf hin, irgendwann dazu zu kommen – bis dahin sollten wir Netzwerke erfolgreich machen, deren Mehrwert so klar wie möglich herausstellen und intensiv in Bildung investieren.
Schlussgedanken
- Wie entwickelt sich wohl das „Social Freezing“ Phänomen – nachdem sich nun endlich immer mehr Menschen an Plattformen und Netzwerken beteiligen, laufen wir Gefahr dass durch die Selbstzensur (um zu gefallen, bzw kein Risiko einzugehen, aus Angst vor BigData Analysen) die Authentizität, Geschwindigkeit und wertvolle Beteiligung reduziert wird.
- Von „autonomen“ Fahrzeugen lernen wir, dass diese „alle“ Regeln kennen müssen und zusätzlich Kontext und Situationsabhängig (dynamisch, responsive) reagieren können müssen. Das gilt wohl auch für selbstorganisierende Netzwerke.
- Wir haben schon viel von viralen Effekten im negativen Bereich gehört (Shitstorm) – meine Erwartung ist, dass wir künftig auch positive Skaliereffekte erleben werden – wie schon einmal geschrieben: statt einem Top-Down, One-Size-Fits-All, Projekte -Roll Out eine „Bewegung“ (Movement) erzeugen zu können, das dramatisch schneller, nachhaltiger und positiver wirkt.
- Inzwischen gewinnen Netzwerke die ersten Awards – eine Legitimierung und damit ein flächendeckender Einsatz wird damit gefördert
- Ohne ESN kein Netzwerk – damit sollten den Social Media Zweiflern endgültig klar werden, dass es Zeit wird sich mit dieser Kommunikationsform auseinanderzusetzen
- Eigentlich sollten wir keine „Helden“ mehr brauchen – dennoch sind heutige erfolgreiche Netzwerke doch wieder auf enthusiastische Individuen, Führungspersönlichkeiten oder zumindest charismatischen Menschen zurückzuführen… es scheint als „wünschen“ sich Menschen Vorbilder, Leader, Visionäre – gerne!! Beispiele bei denen das nicht zutrifft!!
Sicher habe ich jetzt sehr viel vergessen, unzulässig verallgemeinert und unscharf argumentiert 😉 Aber ich hab die Gedanken formuliert und übergebe Sie Euch als Futter für eigene Gedanken.
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