Digitaloffensiven greifen zu kurz
Gemeinschaftsartikel (ungekürzt) von Anna-Maria Schirmer / Harald Schirmer für einen Artikel in KUNST + UNTERRICHT (Friedrich Verlag) – Heft 441/442 2020 Bestellnummer 51441 Link zum Heft
Unter dem Druck, Schritt halten zu müssen, werden Schulen mit Smartboards und W-Lan ausgestattet, Schulbücher digitalisiert und Tablet-Klassen eingeführt. In hitzigen Debatten wird um die Einführung neuer Unterrichtsfächer gestritten oder gar vorgeschlagen, das überkommene schulische Lernen im Klassenverbund durch individuelle, passgenaue Lernoptimierung via Internet zu ersetzen.
Bei allem guten Willen, haftet vielen Bemühungen ein fahler Beigeschmack an, denn selten reicht die Aufmerksamkeit, um hinter die Hochglanzfassaden der schönen, neuen Technikwelt zu blicken und die eigentlichen Notwendigkeiten der Zeit zu reflektieren. Und so läuft manche stürmische Offensive am Kern der Entwicklung vorbei und die Ausstattung mit noch so potentem technischem Gerät greift zu kurz. Wir haben es nicht lediglich mit neuen Werkzeugen, sondern mit tiefgreifenden, alle Bereiche des Lebens umfassenden Veränderungen weit über den äußerlich sichtbaren technischen Fortschritt hinaus zu tun (Burda 2010, 87f.). Wer nur die bisher gehabten Prozesse und Strategien digitalisieren möchte, hat den Kern der digitalen Transformation nicht verstanden. Es gilt, genaue Analysen der konkreten Veränderungen vorzunehmen und daraus diejenigen Erfordernisse abzuleiten, die notwendig sind, um Menschen als Gestalter ihrer Zeit stark zu machen.
Dies gilt insbesondere, wenn im Streit um Pfründe das vermeintliche Ass aus dem Ärmel gezogen wird, die Wirtschaft brauche Informatiker und Programmierer, ohne algorithmisches Denken stünde man später zwangsläufig auf der Straße und deshalb müsse etwa dem Lernen von Programmiersprachen, Robotik-Kursen und Informatik die erste Priorität eingeräumt werden. Eine ganzheitliche Bildungsidee zugunsten einseitig technisch-rationaler Gewichtungen auszudünnen, ist grob fahrlässig und geht zudem an den Erfordernissen der Zeit und der Arbeitswelt vorbei.
New Work, New Learning – wohin geht die Reise?
Eine der größten Veränderungen jüngster Geschichte durchzieht im Moment alle Ebenen der Gesellschaft und sorgt für radikale Umstrukturierungen in vielen Feldern der Arbeitswelt.
Auslöser dieses, von heftigen Umbrüchen flankierten Wandels ist eine Kombination aus Globalisierung, Automatisierung, politisch-gesellschaftlicher Herausforderungen und veränderten ökonomischen Bedingungen. Diese wiederum fußen auf den technologischen Entwicklungen, namentlich der Digitalisierung. (Kestler/Rump 2019, 176).
Eine große, nur durch elementare gesellschaftliche Umstrukturierungsprozesse zu meisternde Herausforderung liegt in der zunehmenden Automatisierung von Arbeitsprozessen, denn Roboter und AI übernehmen immer mehr Tätigkeitsbereiche, die zuvor Arbeitsplätze sicherten. Berechen- und steuerbare Prozesse werden in vielen Arbeitsfeldern über kurz oder lang mit hoher Wahrscheinlichkeit von computergesteuerten Maschinen übernommen. Zudem verändern sich viele Arbeitsprozesse durch die wachsende digitale Vernetzung.
Anhand präziser Thesen beschrieb der Wirtschaftspsychologe und Netzwerktheoretiker Peter Kruse den Einfluss, den das Internet auf Gesellschaft und Wirtschaft hat. Er spricht von Machtverschiebungen, Spontanaktivitäten, Aufschaukelungseffekten und beschreibt damit die Charakterisitik eines nicht-linearen Systems, das sich den tradierten Management- und Steuerungsmethoden entzieht. Was heute in ist, kann morgen out sein, was sich heute gut verkauft, ist morgen vielleicht schon überholt. (Kruse 2010, 69f.)
Durch die Vernetzung und den damit verbundenen Zuwachs an Komplexität, haben wir es in vielen Arbeitsfeldern (und darüber hinaus Bereichen des Lebens) heute mit derart nicht-linearen, schwer steuerbaren Systemen zu tun. Der Manager, der Unternehmensprozesse plant, vorstrukturiert und die kleinschrittige Ausführung dann nur noch überwacht reicht heute nicht mehr. Der Arbeitnehmer, der weitgehend fremdbestimmt jene kleinteilig organisierten Arbeitshäppchen nur abarbeitet und abliefert, ebenso wenig. Es gilt vielmehr zu lernen, mit Unschärfen und Unbestimmbarkeit umzugehen und sich auf permanente Veränderung nicht nur einzulassen, sondern diese verantwortungsbewusst und sinnorientiert mitzugestalten.
Die Systemarchitektur digitaler Netzwerke hat die Spielregeln der Wirtschaft maßgeblich verändert und bringt neue Formen der Unternehmenskultur hervor. Hinter den Schlagworten New Work, New Leadership, Open Space, Makerspace, Engagement und Empowerment, agiles Arbeiten und Lernen, Design Thinking und ähnlichem stehen Konzepte, welche im Kern darauf zielen, Menschen und Systeme „Vuca-fähig“ zu machen (Graf, Gramß, Edelkraut 2017, 15f.)
Abb: VUCA und die Verschiebung in Bezug auf Arbeiten und Lernen
Das Akronym VUCA (volatile, uncertain, complex, ambigious ) steht für die Beschreibung der veränderten Rahmenbedingungen, die sich durch die Digitialisierung ergeben.
In einer Welt, die sich ständig und oft unvorhersehbar verändert, ist Flüchtigkeit und Unfertigkeit (volatility) eine zentrale Kategorie, mit der es umzugehen gilt. Da sich Ereignisse kaum noch prognostizieren lassen, wird Ungewissheit (uncertainty) zum Regelfall, denn bei der hohen Komplexität (complexity) stetig wachsender, hoch vernetzter Systeme, greifen einfache Erklärungsmuster ins Leere. Im hochkomplexen, schnelllebigen und von vielen Unsicherheiten geprägten Umfeld, tritt Mehrdeutigkeit (ambiguity) an die Stelle vermeintlich Klarheiten.
In dieser Dynamik besteht gut, wer durch Veränderungsbereitschaft und Innovationskraft handlungsfähig bleibt. Resilienz und Lernfähigkeit werden auf allen Ebenen zentrale Kategorien, denn es wird angesichts der holprigen und sprunghaften Veränderungen, die weiterhin bevorstehen für den Einzelnen sowie für die Systeme darum gehen, Krisen als Anlass für Weiterentwicklung sehen und nutzen zu können. Auch Initiativkraft und Verantwortungsübernahme sowie die Fähigkeit, Zusammenhänge zu durchschauen und in sinnhafter Weise zu gestalten, werden immer gefragter werden. Die Herausforderungen sind groß, eine Wende zu verantwortungsbewussterer Ökonomie steht längst an (Berners-Lee 2019, 143f.). Eine weiterhin rücksichtslose und kurzsichtig auf Gewinnmaximierung zielende Wirtschaft können wir uns schlicht nicht mehr leisten. Für die Wirtschafsethikerin Sara Spiekermann ist klar, dass eine neue Technologie- und Unternehmenskultur zu entwickeln ist, „die beim verantwortlichen Handeln jedes Einzelnen ansetzt“ (Spiekermann 2019, 365).
Damit diese, in vielen Bereichen angestoßene Wende gelingt, müssen Bildungsinstitutionen die veränderten Paradigmen wahrnehmen und reagieren.
New Life
Nicht nur die großen gesellschaftlichen Systeme wie etwa die Arbeitswelt sind durch die, sich rasant weiter entwickelnden Informationstechnologien in eine Beschleunigungsspirale geraten, auch das individuelle, persönliche Leben ist in dieses, vielfältige Chancen aber auch Risiken umfassende Universalprogramm involviert. Jeder von uns ist in unzählige Vernetzungen verwoben, die uns Räume scheinbar unendlicher Möglichkeiten eröffnen, zugleich aber unsere Handlungs- und Meinungsfreiheit auch auf manipulative Weise einschränken können. Neoliberale Erzählungen – nicht selten mit dem euphorischen Klang von Heilsbotschaften versehen – feiern die Freiheit, die sich mit dem Fortschritt automatisch ergebe (Harari 2019, 75): qua neuester Technologien wie BigData und AI gewinnen wir fortwährend Zugriff auf alle Bereiche des Lebens; wir können jederzeit mit beinahe jedem verbunden sein, können uns schier grenzenlos informieren, identifizieren und positionieren.
Die real entstehenden Möglichkeitsräume bergen viele Chancen. So scheint etwa das viel versprochene und für klassisches Bildungsdenken zentrale Moment der Freiheit tatsächlich zum Greifen nah. Noch nie hatte eine vergleichbar große Menge an Menschen so direkten Zugriff auf Information und Weiterbildung. Eliteuniversitäten wie Harvard bieten beispielsweise Online-Kurse ohne Zugangsbeschränkung an. (https://www.edukatico.org/de/news/mooc-2-0-kurse-aus-regulaeren-studiengaengen )
Zugleich ist Freiheit auch bedroht, wie selten zuvor, denn die Befähigung zur Freiheit wächst nicht automatisch im gleichen Tempo, wie die freiheitlichen Möglichkeiten. Informationsangebote müssen genutzt werden können, Freiräume zur Mitgestaltung machen dann Sinn, wenn Menschen bereit und in der Lage sind, Verantwortung mit zu tragen und zu Gestaltern zu werden. Heute gilt es, das Bildungsziel, Menschen zur Freiheit zu befähigen, ernsthafter und konsequenter denn je zu verwirklichen (vgl. Schirmer 2020).
Neue Möglichkeiten?
Allmählich ist zu beobachten, wie sich im Zug der umfassenden Transformationen in der Arbeits- und Schulwelt neue Lernkulturen über viele Widerstände hinweg entwickeln und etablieren.
Ein zentraler Aspekt ist die Verschiebung von stark instruierendem, fremdbestimmtem Unterricht zu diversen Beteiligungsformaten. Beteiligung meint dabei, dass Lernende mit ihren individuellen Dispositionen als selbstständiger Konstrukteure des eigenen Lernprozesses ernst genommen werden. Der Gedanke ist freilich nicht neu, sondern lässt sich bis in die Reformpädagogik zurückverfolgen. Dementsprechend finden wir auch in der Kunstdidaktik eine Vielzahl bewährter offener Unterrichtsformen; vom gelenkt entdeckend-forschenden Lernen, über diverse Projektunterrichtsformate bis hin bis zu radikal ergebnisoffenem Werkstattunterricht reicht die Palette der zum Teil auch gut in der Praxis evaluierten Vorschläge. Selbstgesteuertes Lernen und darauf läuft „Beteiligung“ hinaus, befähigt Lernende sukzessive sich eigene Lernziele zu setzen, dafür angemessene Techniken, Inhalte und Strategien selbstständig zu wählen und die eigenen Lernfortschritte zu reflektieren. Digitale Werkzeuge räumen in diesem Bereich neue Möglichkeiten ein, wenn wir zum Beispiel an Formen der kollaborativen Zusammenarbeit denken.
Beispiel für Kollaboration Bildbeschreibung von Dr Lars Zumbansen:
Eine weitere zentrale Kategorie für neue Lernkultur sind Neugier und Sinnorientierung. Nur wer eine echte Frage stellt, macht sich intrinsisch motiviert auf die Suche nach einer Antwort und erwirbt so die Fähigkeit, sich Sinnzusammenhänge selbstständig fragend zu erschließen. Eine fragende, neugierige Haltung ist für eigenverantwortliches lebenslanges Lernen unabdingbar und damit eine Schlüsselqualifikation. Traditionelle Formate der Wissensvermittlung übergehen den zentralen Schritt des Fragenstellens häufig. An dieser Stelle wird auch der Unterschied zwischen Lernen für eine Welt im Zeitalter der Digitalisierung und digitalen Lernprogrammen deutlich. Während ersteres auf größtmögliche Mündigkeit zielt, untergräbt letzteres durch den kleinschrittig vor- und fremdbestimmten Lernweg individuelle Deutungs- und Bedeutungsprozesse. Derartige Lernprogramme mögen in isolierten Bereichen einen guten Dienst tun, komplexe Bildungsprozesse ersetzen, werden sie nicht. (Muuß-Merholz 2019, Kapitel 5)
An die Stelle der Lehrzentrierten Vermittlung statischer Wissenskomplexe, tritt das Lernen durch Aushandlung vernetzter und vielschichtiger Wirklichkeitsmodelle. Konzentrierte sich Wissensvermittlung bislang auf kanonisiertes, in Schulbüchern didaktisch aufbereitetes Wissen, gilt es heute stets, die vielen anderen, häufig sogar leichter zugänglichen Informationsquellen mitzudenken. „Weil es im Buch steht, ist es so“ kann heute nicht mehr überzeugen, offenbart ein rascher Blick ins Netz doch mitunter viele alternative Interpretationen einer Sachlage. Zielgerichtetes recherchieren und das Bewerten von Quellen und Informationen muss geübt und gelernt werden.
Im Schutzraum Schule gilt es, ein gesundes Gleichgewicht zwischen verlässlicher, Orientierung stiftender Bestimmtheit und beweglicher Meinungsgestaltung zu finden, um Schülern das Denken im Fluss der sich permanent ändernden Informationen zu lehren. Ein sicherer Umgang mit Mehrdeutigkeit und Ergebnisoffenheit wird zum Navigationssystem im digitalen Netz der sich überlagernden Informations- und Bedeutungsschichten.
Letztlich wird Schule Diversität auch in vielerlei Hinsicht viel ernster zu nehmen haben, um auf eine Welt vorzubereiten, die dem Individuum viel größerer Spielräume gibt. Ausgehend vom Eingehen auf diverse Lerntypen, über die Anerkennung diverser auch multikulturell geprägter Sichtweisen und Wertesysteme wird es darum gehen, Perspektivenübernahme, Toleranz und Fremdverstehen nicht nur in den für die Schüler zu beschreibenden Soft Skills zu verlagern, sondern zu gelebter Schulwirklichkeit zu machen.
Kritisch bleiben und Schule verändern
Zweifelsohne bringt die digitale Transformation neue Formen der Wahrnehmung, des Denkens und Kommunizierens sowie der Zusammenarbeit mit sich. Setzt man allein auf digitaltechnische Ausstattung, werden jene Formen sich kaum in sinnvoller Weise entwickeln. „Für Bildungsziele wie Aufklärung und Mündigkeit, Kreativität und Vielfalt, Freiheit und Verantwortung braucht es keine Vereinfachung der digitalen Welt, sondern Ansätze, die das offene Netz umarmen, den Umgang mit Vielfalt und Chaos fördern, selbstbestimmt Aktivitäten und kollaborative Projekte ermöglichen.“ (Muuß-Merholz ebd.)
Das „umarmen offener Netze“ mag für viele zu weit gehen, die Notwendigkeit, jene durchaus mit langer Tradition versehenen Bildungsziele endlich ernsthafter zu verfolgen, sollte jedem pädagogisch Tätigen indes klar sein. Im technologisch potenzierten „anything goes“, muss um menschengerechten Fortschritt und die diesen befördernde Bildung gerungen werden (Spiekermann 2019). Und deshalb müssen wir uns auch (selbst-)kritisch fragen:
Erwerben Schülerinnen und Schüler die Fähigkeit, selbstorganisiert und selbstbestimmt zu lernen und zu arbeiten? Wecken wir Neugier und Entdeckerfreude? Statten wir Kinder und Jugendliche mit der Fähigkeit und dem Impuls Fragen zu stellen aus? Tragen wir dazu bei, aus Kindern resiliente Erwachsene zu machen? Fördern wir eine transversale und kritische Vernunft und bewegliche Denkformate? Ist das Lernen in Sinneinheiten an die Stelle der Vermittlung additiver Wissensfragmente gerückt? Lösen unsere Bildungseinrichtungen das Versprechen, Kinder zu mündigen Menschen zu erziehen ein?
Quellen:
- Es gibt keinen Planet B – Mike Berners-Lee
- 2020 – Gedanken zur Zukunft des Internets – Hubert Burda
- Agiles Lernen – Graf, Gramm, Edelkraut
- 21 Lektionen für das 21. Jahrhundert – Yuval Harari
- S.MILE: Mit Sinn und Selbststeuerung zur neuen Lernkultur – Kestler, Rump
- Routenplaner #digitale Bildung – Krommer, Lindner, Mihajlovic, Muuß-Merholz, Wampfler
- Zugänge – Welt der Bilder, Sprache der Kunst – Kirschenmann, Schirmer
- Digitale Ethik – Ein Wertesystem für das 21. Jahrhundert – Sarah Spiekermann
Autoren:
Anna-Maria Schirmer – Bildungswissenschaftlerin, Seminarlehrerin, Autorin…: die-ideenwerkstatt.de und ich 😉
erstmals veröffentlicht:
Kunst+Unterricht 441/442, 2020 Best. Nr. 51441
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