
Ein Plädoyer für ehrlicheren Austausch
Wer sein Leben voll zufriedenstellend im Griff hat, gesund und glücklich lebt, genug Zeit für die wichtigen Dinge im Leben – in einer funktionierenden Familie – hat, sollte jetzt lieber nicht weiterlesen. Ich schaffe das nicht – und deshalb ich möchte das teilen – vielleicht bin ich ja nicht alleine damit.
Natürlich ist es einfacher, mit einem Klick beim Lieferservice zu bestellen, statt lokale Geschäfte zu unterstützen online zu shoppen. Natürlich sind exklusive Kleider schicker als Getragene, neueste Technik cooler als Reparatur alter Geräte und weltweite Urlaube schicker als Balkonien.
Natürlich ist es einfacher die Türe hinter sich zu schließen und wieder ins Büro zu gehen und Partnern den Abwasch, den Arztbesuch oder die Hausaufgabenbetreuung zu überlassen.
Und ja, es ist auch viel einfacher, die eMail (an alle) zurückzuschicken, als echten Austausch zu haben oder „die Welt verändern“ zu wollen. Vorm Fernseher sitzt es sich weniger anstrengend, als tiefe Gespräche zu führen und die vielen Aufgaben zu verplanen. Auf „die da oben“, „die bösen…“ zu zeigen, geht halt auch schneller, als selbst etwas zu unternehmen.

Nachhaltigkeit ist mir/uns?
scheinbar nicht in die Wiege gelegt
Ich bin wohl kein schlechter Mensch, wenn ich mich so verhalte, wie ich es noch so oft tue, es liegt wohl in uns – weil unser Gehirn gerne Energie spart, wir genetisch auf „Arterhaltung“ = Fortpflanzung = zeigen wie toll wir sind (oder wir uns leisten können) getrimmt sind, weil wir ein Ego haben, dass sich Freiheit und das „größere Stück“ Kuchen wünscht, bevor Ethik, Moral, Solidarität, Rücksicht etc. mahnen.
Es hat aber den Anschein als wären wir in vielen Bereichen an einem Punkt angekommen, an dem dieses genetische Verhalten (weil wir so viele Menschen sind) diesen Planeten zerstört. Zum einen weiß ich (wenn ich mich dafür interessiere) welche Folgen das Nachgeben meines Ego mit der neuesten Technik oder dem Steak hat (Kinderarbeit, Ressourcen, Verschwendung). Ich habe eine Ahnung, was mich aus psychologischer Sicht treibt, Dinge zu tun oder nicht und das der Grund für dieses Verhalten längst nicht mehr „lebenswichtig“ ist (Imponiergehabe zur Arterhaltung). Auch ist mir klar, dass die Wirkung meines/unseres Handelns inzwischen dramatische, globale Folgen hat, die irreversibel sind.

Demut vor der riesigen Aufgabe
„Kulturwandel“ ist ein erster Schritt
Immer mehr Menschen – und ich natürlich auch – wollen sich anders verhalten. Ernährung, Konsum, Verbrauch, Beruf, Familie, Fortbewegung, Bildung… es gibt wohl kaum ein Thema, dass wir nicht versuchen zu verbessern, zu ändern oder ganz in Frage stellen. Statussymbole verändern (zumindest in Teilen der Gesellschaft) ihre Bedeutung, was ein deutlicher Hinweis für den Wandel ist. Während der teure Sportwagen oder das SUV immer noch als Symbol für „wirtschaftlichen Erfolg“ steht, sehen ihn andere schon als kritische Klimasünde. Minimalismus und Achtsamkeit sind nur zwei Beispiele die ganz andere Lebensmodelle mit andern Werten verkörpern.
Anerkennung, wie viel schon passiert,
und wie groß der eigene Beitrag vielleicht schon ist.
Verhaltensveränderung, Kulturwandel und große Veränderungen spielen in der Liga „Rauchen aufhören“, „Gesund ernähren“, „Sport treiben“ – es braucht sehr viel Disziplin, tägliche Aufmerksamkeit, am besten viele, die Mitmachen. Zudem gibt es jederzeit das Risiko, wieder in alte Muster zu fallen. Ja nach Arbeit, Familie und diversen Engagement ist Müdigkeit und der Schweinehund gegen Sport sehr mächtig. Auch „schuldig“ muss ich mich bekennen beim Gerechtigkeitsgefühl oder gar Neid – „warum soll ich, wenn die nicht…“, „was hab ich schon für einen Einfluss“, „das macht nur Sinn, wenn alle…“ ist mir auch nicht völlig fremd.
Kulturwandel kann man nicht
installieren, hochladen oder anschalten

Ich bin aber als Individuum verantwortlich für meine Ernährung um gesund zu bleiben, verantwortlich dafür, was oder wen ich mit meinem Geld unterstütze. Das „Tier“, dass ich füttere mit meiner Aufmerksamkeit… wächst (es ist eine Entscheidung ob das Angst, Verschwendung, Ego oder Zuversicht, Nachhaltigkeit oder #WIRgewinnt ist).
Ich bin verantwortlich dafür, wenn nichts mehr Repariert wird, weil ich mich nie dafür interessiert habe oder niemanden unterstütze, der es für mich tut.
Ich trage die Verantwortung für meine Familie – und habe geschworen, sie so zu lieben… naja mindestens so wie meine Arbeit.
Verantwortung fängt auch bei der eMail an, die ich „an alle“ zurückschicke, weil der Knopf so nah ist, ohne auch hier über die Ressourcenverschwendung (Energie, Bandbreite, Speicherplatz, Lebenszeit…) nachzudenken. Ich bin auch verantwortlich, mich selbstverständlich stetig weiterzubilden um echte Argumente zu kennen, statt Influenzern, Werbung oder Heilsbotschaften auf den Laim zu gehen.
Die heutigen Freiheiten und Möglichkeiten
bedeuten viel mehr Verantwortung

Ich habe noch eine Zeit erlebt, in der bei Großeltern oder Eltern Rollen, Aufgaben etc. eindeutig (wenn auch sicher nicht gerecht) verteilt waren. Vereinfacht waren Haushalt, Gelderwerb, Bildung, Politik… Aufgaben und Verantwortung klar zugewiesen und stark voneinander getrennt. Es war Einfach(er). Es war eine „Ja/Nein“, „Richtig/Falsch“ simplifizierte Zeit. Diese (meist aus Unwissenheit) starke Vereinfachung ist für Kriege verantwortlich, für Ausgrenzung und Mobbing, für Verfolgung von Minderheiten…
Jetzt leben wir in der „es hängt davon ab“, „sowohl als auch“ Zeit in der wir mit Unsicherheit, Komplexität, Risiken und Vieldeutigkeit umgehen lernen müssen.
Früher war es nicht besser,
aber heute kann es besser werden
Heute erlebe ich dadurch eine ÜbergangsZeit der schmerzhaften Kompromisse – es ist kaum noch möglich etwas mit zeitlich 100% Aufmerksamkeit zu machen – Familie, Job, Gesundheit, Freude, Spiritualität… Da sich irgendwie jede/r um alles kümmern soll, verkürzt sich die Zeit für die einzelnen Bereiche stark (darin kann man dann versuchen volle Aufmerksamkeit=Achtsamkeit zu üben)
Um alles unter einen 24 Stundentag zu bekommen helfen die klassischen Antworten der Leistungsgesellschaft: Fokus, Abgrenzung und Effizienz sowie eine möglichst gute Planung, aber das eigentliche Problem bekomme ich dabei nicht gelöst. Die Unzufriedenheit mit mir selbst muss doch frustrieren – oder soll ich mich damit „abfinden“?

ein effizienter Kompromiss gut geplant
löst das eigentliche Problem nicht.
Wenn beide Partner arbeiten, gemeinsam den Haushalt mit gesunder Ernährung, nachhaltigem Konsum, qualitätvoller Kinderzeit, gesunden Hobbies, lokalem Einkauf, Engagement in der Schule und sozialen Projekten, politischer Beteiligung und nachbarschaftlicher Hilfe leisten wollen, ist inklusive Schlaf der Tag zu kurz – auch mit der effizientesten Planung kann das nicht klappen!
Wie lange müsste ein Tag sein,
damit wir zufrieden mit uns sind?
Nicht verwunderlich, dass derzeit so viel Angst und Missverständnis, so emotionaler Kampf, Ausgrenzung und gegenseitiges Beschuldigen passiert. Ob im großen Gesellschaftlichen Themen oder ganz privat in der Familie oder im Job, passieren der Stress, Ärger, bis hin zu Scheidungen etc., weil das „Fass“ voll ist und schon ein Tropfen zum überlaufen führt. In so vielen privaten Gesprächen teilen mir Freunde genau die gleichen Probleme, die ich selbst auch erlebe – ich/wir sind nicht allein damit!

Es ist nur – trotz „Fehlerkultur“
nach wie vor nicht so schick, ehrlich zu sein.
Ich schaffe es nicht, das Fass zu leeren und riskiere damit immer wieder meine Familie, weil es so viel einfacher ist… z.B. viel zu arbeiten. Wir leben schließlich in einer Leistungsgesellschaft, in der selbst „Lernen“ oft als unproduktiv gesehen wird. Nach wie vor zählen Haushalt, Pflege oder Kinderbetreuung sehr wenig in unserer Gesellschaft (siehe Verdienst in Sozialbereichen).
Wie können wir unser „Fass“ leeren,
damit es nicht mehr so schnell überläuft

Das dauerhafte Gefühl nichts mehr „richtig“ machen zu können (und das betrifft sicher nicht nur PerfektionistInnen) hinterlässt bei mir oft ein wenig Selbstwertförderliches Gefühl, auch Zufriedenheit wird schwieriger, Freude über Erreichtes wird von der nächsten Aufgabe „aufgesaugt“, die Energie sinkt langsam aber stetig… Burnout, Depressionen, Einsamkeit, Versagensängste waren noch nie so verbreitet. Im Gegenteil fühlt es sich manchmal schon an, als wäre der BurnOut ein „LeistungsAbzeichen“, wirklich alles gegeben zu haben. Wollen wir das wirklich so?
Was gibt uns Energie?
Ich muss mir eingestehen, dass in einen 24 Stunden Tag all die Dinge, die ich tun will/muß, einfach nicht reinpassen… sollten wir unser wertvollstes Gut neu denken und „verteilen“ – die Zeit.

Eine Familie mit Kindern, in der beide Elternteile Vollzeit arbeiten, kann doch eigentlich nicht gut/gesund/nachhaltig funktionieren, oder?
Stellen wir die richtigen Fragen?
Zeit effizienter nutzen oder
die Aufteilung grundsätzlich in Frage stellen?
Und jetzt? Wir sprechen so viel über Dinge, die wir zusätzlich noch tun müssten, nicht mehr dürfen oder statt dessen machen sollen, anstatt einen ganzheitlichen Blick auf unsere persönliche und gesellschaftliche Position zu werfen. Unser „System“ braucht ein Update!
Es gibt immer mehr Jobs, die wegfallen, immer höhere Qualifizierungsanforderungen (kostet Zeit), immer mehr Veränderung, immer mehr Verantwortung und Entscheidungen, die Nachdenken und viel Austausch verlangen. Viele alte Technologien, die wir bald nicht mehr haben, neue, die gerade entstehen – wie müsste denn ein sinnvoller, nachhaltiger und gesunder Tag aussehen, damit das klappen kann. Von einem so beschriebenen Bild ausgehend, können wir dann sprechen, welche Rahmenbedingungen wir dafür ändern müssen. Es ist gerade viel in Bewegung – vielleicht genau die richtige Zeit dafür…

Lasst uns doch über Zukunftsideen reden, die erstrebenswert scheinen und weniger Kompromisse bedeuten, eine die „Enkelfähig“ ist – also die wir auch mit guten Gewissen an unsere Kinder übergeben können:
Eine mögliche Vision in wenigen Worten:
Wir stehen als Familie auf und haben Zeit miteinander und besprechen, was wir heute tun wollen und müssen, dann gehen wir 3 Stunden fokussiert unseren Tätigkeiten (Job, Haushalt, Schule) nach, treffen uns wieder in der Kantine mit Kollegen, in der Schule mit Freunden, zu Hause vielleicht mit Nachbarn – Essen und bewegen uns – dann geht es nochmal 2-3 Stunden fokussiert weiter, dann ist Solidaritätszeit (für andere engagieren), Familienzeit, Freizeit.
Das ist sicher nicht „die Lösung für alle“, aber ein Bild als Grundlage zur Diskussion – ein Vorschlag.
Das könnte bedeuten:
- Weniger Verdienst/Einkommen dafür mehr Zeit (garantiertes Grundeinkommen?)
- Sinn und Vorliebengesteuertes Arbeiten
- Flexiblere Arbeitsmodelle, Effizienz, Fokus und asynchrones, hybrides Arbeiten
- Mehr ehrliche Kommunikation untereinander und „agile“ Planung
- Höheres Engagement in Politik, Sozialem und Bildung möglich
- Gesündere Menschen, weniger Burnout und Konflikte „Fässer nicht mehr vor dem Überlaufen“
- Wieder mehr Begegnung, weniger Einsamkeit auch außerhalb der Filterblase
- Achtsamkeit als System?
- Offenheit für Veränderung, weil Kapazitäten dafür da sind
- …
Zurückzukommen auf mein „Plädoyer für ehrlicheren Austausch“ – ich gebe zu, ich schaffe vieles nicht, wie ich möchte – tolle Jobs, tolle Angebote, relevante Themen, in die ich mich einbringen möchte. Ich möchte einen guten, wirksamen Beitrag im Beruf leisten, ein guter Ehemann und natürlich Vater sein, gesund bleiben und meinen Beitrag für Nachhaltigkeit weiter liefern – aber es fühlt sich oft so überfordernd unmöglich an – mehr wie ein Scheitern als Vorwärtskommen.
Ich bin sehr dankbar für die vielen tollen Menschen um mich herum, die als „EntlastungsClique“, „Motivatoren“ agieren oder mit ihrem postiven Feedback Energie spenden.

Natürlich kann ich noch lange so weiter machen – aber will ich das?
Vielleicht bedeutet es Mut und Überwindung, aber ich halte es für sehr wichtig, all die Probleme und Sorgen – die sicher nicht nur ich habe – zu teilen und anzusprechen.
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